Alte Brücker Post, Ilse Weber, Gerade Frauen: Wird alles gut?
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Brück. Nach dem Programm ist es still in der Alten Brücker Post. Minuten lang ganz still. In das Schweigen hinein bekennen die Künstlerinnen:
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„Auch für uns ist es jedes Mal schwer zu ertragen.“
Die Gastgeberin, Ricarda Müller, hat ihre Worte vorformuliert, dennoch kommen sie ihr nur leise, stockend über die Lippen:
Ricarda Müller
„Laßt uns alles tun, dass es gut wird.
Denn es ist gerade nicht gut.
Bringt den Mut auf,
Wir müssen jetzt den Mund aufmachen.“
„Gerade Frauen“ in der „Alten Brücker Post“
In den 70 Minuten davor haben Elke Uta Schepel (Piano & Rezitation), Maria Elisabeth Weiler (Bratsche & Geige) und Ila Raven (Gesang & Rezitation) Fragmente aus dem Werk der deutschsprachigen, tschechoslowakischen, jüdischen Schriftstellerin Ilse Weber vorgetragen und ihre Geschichte erzählt (siehe auch die Ankündigung).
Weber wurde 1903 in Witkowitz (heute Vítkovice) bei Mährisch-Ostrau (Ostrava) geboren. Bereits im Alter von 14 Jahren begann sie Märchen und Theaterstücke für Kinder zu schreiben. Sie heiratete Willi Weber. Am 6. Februar 1942 wurde sie in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Der Ehemann überlebte schwerkrank. Ihr ältester Sohn Hanus konnte nach England geschickt werden und lebte später in Schweden. An seine Mutter und an seinen jüngeren Bruder Tomas blieben ihm nur vage Erinnerungen, Briefe und Gedichte. Mutter und Sohn wurden am 6. Oktober 1944 im KZ Auschwitz ermordet. Selbst in der Nüchternheit der Encyklopädie Wikipedia kann man die Dramatik der Situation und die große Menschenliebe der Weber spüren:
„Beim Gang in die Gaskammer soll Weber für ihren Sohn und die anderen Kinder das von ihr komponierte Schlaflied Wiegala gesungen haben.“
Ila Raven (Gesang & Rezitation) von den „Geraden Frauen“
In vielfältigen Fragmenten erwecken die „Geraden Frauen“ Ilse Weber und ihre Kunst wieder zum Leben. Sie stützen sich dabei vor allem auf ihre hinterlassenen Briefe, ihre Gedichte und ihre Musik. Aus diesen Teilen lassen Sie nach und nach ein stimmiges Gesamtbild im Kopfe ihrer Zuhörer entstehen. Nur behutsam ordnen sie das Geschehen in die Zeit ein. Erinnern an die Machtübernahme in Tschechien, an die Stadt, „die der Führer den Juden schenkte“, oder an die Wannsee-Konferenz. Ihr Hauptaugenmerk gilt den Lieder der Ilse Weber, die ihr Mann vor der Gestapo vergraben hatte. Webers Poesie ist es wert, nicht vergessen zu werden. Ihre Lebensfreude und Zartheit steht im merkwürdigen Kontrast zur Grobheit ihrer Entstehungszeit. Den „Geraden Frauen“ gelingt es meisterhaft, am Beispiel dieser einen Lyrikerin den großen Verlust fühlbar zu machen, den die Nazis der deutschsprachigen Kultur zugefügt haben.
Ila RavenElisabeth Weiler (Bratsche & Geige) von den „Geraden Frauen“
Brillant nutzen Schepel, Weiler und Raven ihre stilistischen Mittel. Die Stimmen bleiben fast immer zurückhaltend, fast emotionsarm, ganz im Gegensatz zur Dramatik der Geschichte. Die Musik, auch sie stammt überwiegend von Weber, klingt oft melancholisch-leicht, doch man möchte schreien vor Trauer und vor Wut. Der alte Koffer auf dem Tisch gerät einem nicht aus dem Blick.
Neben der eigentlichen Erzählung macht die Zurückhaltung in der Wertung den Vortrag für die Künstlerinnen und die Zuhörer so schwer erträglich. Die vielen, nicht immer chronologischen Fragmente müssen sich erst im Kopf zusammenfügen, ein Prozess, der einem Ilse Weber, ihre Poesie und ihr Leiden einbrennt. Nach diesem Programm wird man sie schwerlich wieder vergessen. Dank der „Geraden Frauen“ hat an diesem Sonntag Nachmittag die Dichterin Weber gesiegt, und nicht die, die ihr das Leben genommen haben. Das poetische Gesamtkonzept des Programms überwindet die Schrecken der Erzählung.
Elke Uta Schepel (Piano & Rezitation) von der „Geraden Frauen“
Wenn man die Geschichte von Ende her erzählt, ist sie schwer genug zu ertragen. Doch Weber kannte bei ihrem Schreiben ihr Ende genauso wenig wie wir das unserer Zeit kennen. Angesichts der vielen Ähnlichkeiten von damals und heute kann man daher beim Hören ihrer Lieder und Briefe nicht auf ihr Schicksal blicken, ohne an das eigene zu denken. Heutiger kann ein Programm über die Vergangenheit kaum sein.
„Alles wird gut“, dichtete Weber. „Alles wird gut?“, fragen die „Gerechten Frauen“ und mit ihnen ihre Zuhörer. Die meisten sind gekommen, weil sie sich bereits selbst diese Frage stellen. Es fehlen die, die wenig fragen. Zwanzig Zuhörer sind bei über 4.000 Einwohnern Brücks zu wenig. An der Werbung hat es nicht gelegen, und erst recht nicht an den Künstlerinnen. „Alles wird gut?“ Das Stück kann gar nicht oft genug aufgeführt werden.
Dieses Mal wurde die Geschichte in einem Haus erzählt, das selbst mit der von Nazis neuerdings als „Vogelschiss“ verharmlosten Geschichte zu tun hatte. In einem Schuppen ganz hinten auf dem Gelände waren 30 französische Zwangsarbeiter untergebracht. Einige Gitter an den Fenstern kann man noch sehen.
Ehemalige Unterkunft für französische Zwangsarbeiter, zukünftiges „Französisches Haus“
Und die Vergangenheit ist nicht vorbei. Nicht wenige fühlen sich heute an das Ende der Weimarer Republik erinnert. Im Nachbarort Linthe wurde die Werbung für diese Veranstaltung an der ESSO Tankstelle und bei McDonalds entfernt. Von den Betreibern lag dagegen eine Einwilligung vor. Die Alte Brücker Post hat mit den „Geraden Frauen“ und ihrem Ilse-Weber-Programm in der Frauenwoche ein notwendiges, ein mutiges und ein starkes Zeichen gesetzt. Zumindest die, die vor allem gemeint sind, haben es offenbar verstanden.
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